Zufälle gibt’s, die gibt es gar nicht. Einen Blogeintrag mit dem Titel „Ich war noch niemals in New York“ schreiben, ein paar Tage später dort hinfliegen und dann im Central Park auf den Interpreten eben dieser Zeile treffen – das ist so ein Zufall. Total unglaubwürdig. Aber genau so hat es sich zugetragen. An dem Tag als ich das erste Mal in meinem Leben in New York aufgewacht bin.
Fünf Uhr Ortszeit, zehn auf meiner inneren Uhr. Raus aus dem Bett, meldet sie. Aber ich drehe mich noch einmal um und es gelingt mir tatsächlich, wieder einzuschlafen. Vier Stunden später stehe ich auf. Alles ist ruhig. Ich habe die ganze Wohnung für mich alleine. Der perfekte Start. Ich koche Kaffee, esse einen Banana-Muffins, den ich am Vorabend im Supermarkt besorgt hatte, ein echter Morgenversüßer, und komme allmählich zu mir. Sechstausend Kilometer entfernt von der Heimat. Die Seele ist nicht so schnell wie ein Flugzeug und hinkt irritiert hinterher. Ich lasse mir Zeit.
My Deli: 108th Street West. Die rote Hand bedeutet Fußgängern zu warten.
Gegen Mittag breche ich schließlich auf, mit dem Plan, durch den Central Park nach Midtown zu spazieren, um mich dort in die Hochhausschluchten zu stürzen und den berühmten Time Square zu besuchen. Im nahe gelegenen „Deli“ besorge ich mir einen Pappbecher Kaffee. Die so genannten Geschäfte gibt es in New York an jeder Ecke: kleine, oft chaotisch anmutende Läden, die durchgehend kalte und warme Snacks anbieten, aber auch ein buntes Sortiment an Waren, die zur Basisversorgung im Alltag gehören. Im Park lasse ich mich treiben, laufe aufs Geratewohl. New Yorks grüne Lunge ist 4 Kilometer lang und 800 Meter breit. Es gibt ein paar Straßen, die von Autos befahren werden dürfen und entlang dieser Straßen separate Steifen für Radfahrer und Jogger. Daneben finden sich aber auch abgelegene, holperige Wege, die man in einem Stadtpark nicht erwarten würde. Ich sauge alles in mich ein. Himmel, Bäume und die dahinter durchschimmernden Gebäude fließen zu einem großen Gemälde zusammen und mit einem Mal kommen mir die Tränen, so überwältigt bin ich. Im Gegensatz zu der ersten Spazierrunde am Vorabend wie unter eine Glocke, spüre ich jetzt alles hyperreal. Mit jeder Faser meines Körpers nehme ich die Umgebung wahr – und gleichzeitig bin ich völlig fassungslos, tatsächlich da zu sein, in New York.
Natur und Architektur als Gesamtkunstwerk mit Gänsehautfaktor.
Begleitet von diesem Hochgefühl passiere „North Meadow“, ein großzügiges Areal mit zahlreichen Sportfeldern und die Tennisplätze von „South Meadow“. Anschließend treffe ich auf das „Jacqueline Onassis Reservoire“, eine riesige Wasserfläche, die man nicht verfehlen kann, weil sie im mittleren Teil den Park in seiner Breite beinahe komplett einnimmt. Der umliegende Rundweg ist bei Joggern beliebt. Dementsprechend dicht laufen sie hintereinander her. Ich mache einen Schlenker zur 5th Avenue, die den Park im Osten säumt. Guggenheim Museum und Metropolitan Museum of Art liegen nicht weit voneinander entfernt. Nichts in der Welt würde mich jetzt dazu bringen, einen der Kunsttempel zu betreten. Ich will weiterlaufen, immer weiter. Wieder quer hinüber auf die Westseite, vorbei an „The Lake“, einem weiteren von insgesamt sieben Seen im Park. Dann zu den „Strawberry Fields“, einem Garten, den Yoko Ono 1983 zum Gedenken an John Lennon angelegt hat – mit dazu gehörigem „Imagine-Mosaik“, eher unspektakulär, doch von großer Anziehungskraft für Beatles-Fans aus aller Welt.
Jackie Onassis Reservoir: tolle Aussicht bei festgelegter Laufrichtung.
„A-Capella Soul“ open air. Guggenheim und Metropolitan müssen warten.
Schlossarteige Appartmenthäuser aus den 30er Jahren säumen den Park an der Upper West Side. John Lennon lebte hier mit seiner Famile in den von Promis begehrten „Dakota Appartments“. Davor trafen ihn 1980 die tödlichen Schüsse. Unweit befindet sich die „Imagine“-Gedenkstätte.
Noch ein Stück weiter treffe ich auf die Liegewiese „Sheep Meadow“ – die Wolkenkratzer von Midtown im Hintergrund. Eine Postkartenansicht, die ich nicht zum ersten Mal, aber zum ersten Mal mit eigenen Augen sehe. Wie auf dem Bild im Reiseführer haben sich Menschen auf der Grünfläche niedergelassen. Am Rand fällt mir eine Gruppe auf, die professionelle Fotos zu machen scheint, und werde neugierig. Ein Mann steht im Mittelpunkt, nicht mehr der Jüngste, in Jeans und Sakko, der unterschiedliche Posen einnimmt. Ich vermute Modefotografie für Best Ager oder so etwas in der Art, als ich mich langsam nähere. Dann traue ich meinen Augen nicht. Noch näher trete ich heran, um mich zu vergewissern. Nun höre ich deutsche Wortfetzen. Und meine Vermutung bestätigt sich. „Schauen Sie bitte etwas nach links und das Kinn leicht anheben, Herr Jürgens…“ befiehlt die Fotografin in höflichem Ton. Ich hole meine Kamera heraus. Niemand beachtet mich.
Udo – Ich war noch niemals in New York – Jürgens setzt sich vor imposanter Skyline Kulisse gekonnt in Szene. Schon bald sind alle zufrieden. Die Gruppe zieht weiter. Ich bleibe zurück, schaue mir die Bilder auf dem Display meiner Kamera an, um mich zu vergewissern, dass diese Begegnung tatsächlich stattgefunden hat. Die Bilder sind da. Alles echt. Dabei konnte ich es vorher doch schon kaum glauben, dass das alles Wirklichkeit ist.